Internationales Kindschaftsrecht

Eine Kindschaftssache hat z. B. dann einen Auslandsbezug, wenn das Kind und seine Eltern nicht im selben Staat leben, oder wenn ein Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes ohne Zustimmung des anderen Elternteils in einen anderen Staat verlegen möchte oder dies bereits getan hat (Kindesentführung).

Dann stellt sich die Frage, welches Recht anzuwenden ist, und ob die Entscheidung eines deutschen Gerichts in anderen Mitgliedstaaten der EU, z. B. Österreich, oder in Drittstaaten wie der Schweiz anerkannt wird. Zunächst aber ist immer zu prüfen, ob die deutschen Gerichte überhaupt zuständig sind.

1) Internationale Zuständigkeit

Aus Sicht eines deutschen Gerichts ist hier vor allem die EuEheVO maßgeblich, die Europäische Eheverordnung, die aktuell auch als Brüssel IIb-VO bezeichnet wird.

Der vollständige Name der Verordnung zeigt, was sie regelt: "Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen."

Der Begriff "elterliche Verantwortung" ist der Oberbegriff, er umfasst das Sorgerecht und das Umgangsrecht, zum Sorgerecht gehört auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht.

Die Brüssel IIb-VO gilt für Gerichtsverfahren, die ab 01.08.2022 eingeleitet werden, ihre Vorgängerin, die Brüssel IIa-VO, die ab 01.03.2005 galt, ist nur noch bei Altfällen von Bedeutung, etwa für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Verfahren, die bis 31.07.2022 eingeleitet wurden.

Die EuEheVO gilt in allen EU-Mitgliedstaaten, mit Ausnahme von Dänemark und seit 01.01.2021 auch nicht mehr im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland.

Alle anderen EU-Mitgliedstaaten wenden die EuEheVO bzw. Brüssel IIb-VO an, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit der Eltern oder des Kindes, auch in Verfahren, an denen nur Nicht-EU-Bürger beteiligt sind. Der entscheidende Anknüpfungspunkt ist der "gewöhnliche Aufenthalt" des Kindes.

2) Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes

So heißt es z. B. in Art. 7 Abs. 1 EuEheVO, dass für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung "die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat." Die EuEheVO sagt aber nicht, wie der Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt" zu definieren ist.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Laufe der Zeit verschiedene Kriterien benannt, die dabei helfen sollen, den gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes zu bestimmen.

Die erste und wichtigste Voraussetzung ist die tatsächliche physische Präsenz des Kindes, das heißt seine körperliche Anwesenheit. Es muss sich in dem EU-Mitgliedstaat, dessen Gerichte entscheiden sollen, aktuell aufhalten oder zumindest in der Vergangenheit aufgehalten haben (EuGH, 17.10.2018, C-393/18).

Außerdem muss es an dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts zu einer "gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld" gekommen sein (EuGH, 22.12.2010, C-497/10).

Bei Säuglingen und Kleinkindern kommt es maßgeblich auf die Integration in das Umfeld der Person an, die das Kind überwiegend betreut. Bei größeren Kindern können der Besuch eines Kindergartens bzw. einer Schule oder erste eigene soziale Kontakte des Kindes ein Indiz für eine Integration an einem bestimmten Ort sein.

Dass ein Kind zwei gewöhnliche Aufenthalte hat, ist zumindest rechtlich auszuschließen. Der EuGH hatte in einer Ehesache entschieden, ein Ehegatte könne nur einen gewöhnlichen Aufenthalt haben, selbst wenn er sein Leben in zwei Staaten verbringe (EuGH, 25.11.2021, C-289/20). Das lässt sich auf Kinder übertragen.

Zur Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts ist keine bestimmte Aufenthaltsdauer erforderlich. Ein Kind kann bei einem rechtmäßigen Umzug ins Ausland oder Inland sofort mit seinem Eintreffen einen gewöhnlichen Aufenthalt erwerben. Das setzt aber in der Regel voraus, dass der frühere Aufenthaltsort komplett und endgültig aufgegeben wurde und am neuen Aufenthaltsort sofort mit der Integration begonnen wird, etwa durch den Besuch des Kindergartens oder der Schule.

Bei einem noch nicht dauerhaft angelegten oder vielleicht nur vorübergehenden Aufenthalt kann es längere Zeit dauern, bis eine Integration erreicht ist, deutsche Gerichte nennen als Richtschnur häufig einen Aufenthalt von sechs Monaten ("Sechs-Monats-Regel", OLG Stuttgart, 30.03.2012, 17 UF 338/11).

3) Entführung des Kindes in einen anderen Staat

Bei einer Kindesentführung, also dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten des Kindes an einem anderen Ort, kann es natürlich ebenfalls zu einer Integration am neuen Aufenthaltsort kommen. Es wird dann aber eine längere Dauer verlangt, bevor von einem "gewöhnlichen Aufenthalt" im Rechtssinne gesprochen wird, der zur Begründung einer internationalen Zuständigkeit in jedem Fall erforderlich ist (OLG Stuttgart, 15.10.2020, 15 UF 8/20: mindestens ein Jahr).

Die längere Dauer des neuen gewöhnlichen Aufenthalts reicht für sich aber noch nicht. Ob sich die internationale Zuständigkeit vom Ursprungsstaat in den Zufluchtsstaat verlagert, wird maßgeblich davon bestimmt, welches gemeinsame supranationale Recht in den beteiligten Staaten gilt.

a) Kindesentführung zwischen EU-Mitgliedstaaten

Wird ein Kind von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen EU-Mitgliedstaat verbracht, z. B. von Spanien nach Deutschland, so bleiben die spanischen Gerichte weiter zuständig, selbst wenn sich das Kind schon ein Jahr oder länger in Deutschland aufhält. Es kann dort seinen neuen "gewöhnlichen Aufenthalt" im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EuEheVO haben, es müssen aber noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein, die sicherstellen, dass kein Sorgeberechtigter übergangen wird.

Nach Art. 7 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 9 EuEheVO bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hat und entweder

a) jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat oder

b) das Kind sich in diesem anderem Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und eine der folgenden weiteren Bedingungen erfüllt ist:

(1) der Sorgeberechtigte keinen Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt hat, in dem sich das Kind aufhält, oder

(2) ein Rückgabeantrag zurückgezogen und innerhalb eines Jahres ab Bekanntwerden des Aufenthaltsortes des Kindes kein neuer Antrag gestellt wurde, oder

(3) ein Rückgabeantrag abgelehnt wurde, und dagegen kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, die Entscheidung also rechtskräftig ist, oder

(4) in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind vorher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, kein Gericht angerufen wurde, oder

(5) dort ein Verfahren stattfand, in dem über das Sorgerecht entschieden, aber keine Rückgabe angeordnet wurde.

Bei Variante (5) ist zu beachten, dass die im Ursprungsstaat getroffene Entscheidung zum Sorgerecht nur dann zu einer Beendigung der dortigen internationalen Zuständigkeit führt, wenn sie abschließend war, eine nur vorläufige Regelung würde nicht reichen (EuGH, 01.07.2010, C-211/10).

b) Kindesentführung zwischen HKÜ-Vertragsstaaten

Wurde das Kind nicht von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen EU-Mitgliedstaat verbracht, sondern z. B. von der Schweiz nach Deutschland oder umgekehrt, dann ergibt sich das vorläufige Zuständigbleiben des Ursprungsstaats nicht aus Art. 9 EuEheVO, sondern z. B. aus Art. 16 HKÜ, der etwas anders formuliert ist.

Die Abkürzung "HKÜ" steht für "Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung" vom 25.10.1980, dem 103 Staaten beigetreten sind, in Deutschland ist es z. B. im Verhältnis zur Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika seit 01.12.1990 in Kraft.

Danach dürfen Gerichte oder Behörden des HKÜ-Vertragsstaats, in dem sich das Kind aufhält und denen das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten mitgeteilt wurde, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen, wenn entweder

a) entschieden ist, dass das Kind aufgrund des HKÜ nicht zurückzugeben ist, oder

b) innerhalb angemessener Frist kein Antrag nach dem HKÜ gestellt wurde.

Der Zufluchtsstaat wird also zuständig, sobald klar ist, dass eine Rückgabe nach HKÜ-Vorschriften nicht erfolgt.

c) Kindesentführung zwischen KSÜ-Vertragsstaaten

Eine vergleichbare Sperrwirkung entfaltet Art. 7 KSÜ, der allerdings mehr Ähnlichkeiten mit Art. 9 EuEheVO hat als mit Art. 16 HKÜ.

Die Abkürzungen "KSÜ" oder "HKsÜ" stehen für "Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern" vom 19.10.1996, dem 57 Staaten angehören. In Deutschland ist das Übereinkommen z. B. im Verhältnis zur Schweiz seit 01.01.2011 in Kraft, die Vereinigten Staaten haben es 2010 gezeichnet, aber bisher nicht ratifiziert.

Nach Art. 7 Abs. 1 KSÜ bleiben die Behörden des Ursprungsstaats so lange zuständig, bis das Kind im Zufluchtsstaat einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat und entweder

a) jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle das Verbringen oder Zurückhalten genehmigt hat, oder

b) das Kind sich im Zufluchtsstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind:

(1) kein während dieses Zeitraums gestellter Antrag auf Rückgabe mehr anhängig ist, und

(2) das Kind sich in seinem neuen Umfeld eingelebt hat.

d) Kindesentführung zwischen MSA-Vertragsstaaten

Anders ist es bei Art. 5 MSA, er stellt lediglich klar, dass Maßnahmen, die von Behörden des Staates des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes getroffen wurden, so lange in Kraft bleiben, bis die Behörden des neuen gewöhnlichen Aufenthalts sie aufheben oder ersetzen. Eine Zuständigkeitssperre ist darin nicht zu sehen.

"MSA" steht für "Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen" vom 05.10.1961, an ihm nehmen 14 Staaten teil, neben Deutschland z. B. auch die Schweiz - zwischen ihnen ist es nicht mehr anwendbar, es wurde durch das KSÜ ersetzt.

Aus deutscher Sicht ist das MSA heute nur noch relevant für Kinder, die ihren Aufenthalt in der früheren portugiesischen Kolonie und heutigen chinesischen Sonderverwaltungsregion Macau oder in einigen überseeischen Gebietseinheiten der Niederlande haben (z. B. Aruba, Curaçao und Sint Maarten).

4) Verhältnis von EuEheVO, HKÜ, KSÜ und MSA

Diese vier supranationalen Rechtsinstrumente verfolgen teilweise verschiedene Ziele und sie können sich verdrängen, es sind also nicht immer alle gleichzeitig anwendbar.

Das HKÜ ist ein Übereinkommen der behördlichen Zusammenarbeit, es regelt keine Sorgerechtsverfahren. Das Ziel des HKÜ ist die Sicherstellung der sofortigen Rückgabe eines widerrechtlich von einem HKÜ-Vertragsstaat in einen anderen HKÜ-Vertragsstaat verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes. Die Rückgabe soll den status quo vor der Entführung wiederherstellen, damit anschließend die Gerichte des Ursprungsstaats eine Sorgerechtsentscheidung treffen können.

Die EuEheVO und das KSÜ enthalten Regelungen, die ihnen den Vorrang einräumen, andere Rechtsinstrumente also verdrängen:

Bei einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Deutschland oder einem anderen EU-Mitgliedstaat (mit Ausnahme von Dänemark) verdrängt die EuEheVO das KSÜ, jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle (Art. 97 Abs. 1 EuEheVO: "Im Verhältnis zum Haager Übereinkommen von 1996 ist diese Verordnung anwendbar").

Ähnlich ist es im Verhältnis der EuEheVO zum MSA, letzteres wird verdrängt, soweit es etwas regelt, das auch die EuEheVO regelt (Art. 95 lit. a EuEheVO).

Bei einem gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat des KSÜ, der nicht zugleich Mitgliedstaat der EuEheVO ist, hat letztere keinen Vorrang. Das KSÜ ist anwendbar und es verdrängt das MSA (Art. 51 KSÜ: "Im Verhältnis der Vertragsstaaten ersetzt dieses Übereinkommen das Übereinkommen vom 5. Oktober 1961").

Bei einem Aufenthalt in einem Vertragsstaat des MSA, der weder ein Mitgliedstaat der EuEheVO noch ein Vertragsstaat des KSÜ ist, ist das MSA anwendbar und es verdrängt das deutsche autonome Verfahrensrecht (§ 97 FamFG: "Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen gehen diesem Gesetz vor").

Nur wenn sich das Kind in einem Staat aufhält, der weder ein EU-Mitgliedstaat noch ein Vertragsstaat des KSÜ oder MSA ist, kann sich ein deutsches Gericht aufgrund der eigenen nationalen Regelungen in § 99 FamFG für zuständig erklären, z. B. weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

5) Aufenthaltswechsel während eines Gerichtsverfahrens

Wer als übergangener Elternteil zu spät reagiert, muss damit rechnen, dass er im Ursprungsstaat kein Gerichtsverfahren mehr einleiten kann.

Verbringt der andere Elternteil das Kind in einen anderen Staat und sorgt er dafür, dass sich das Kind dort sofort integriert, sind die Gerichte dieses Staates international zuständig, selbst wenn die Begründung des neuen "gewöhnlichen Aufenthalts" erst während eines dort laufenden Gerichtsverfahrens abgeschlossen ist.

a) Wechsel aus EU-Mitgliedstaat in EU-Mitgliedstaat

Im Verhältnis zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten folgt das aus Art. 7 Abs. 1 EuEheVO, auch wenn dessen Wortlaut eigentlich das Gegenteil nahelegt: "Für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat."

Man darf den Satz nicht mit Betonung auf "Antragstellung" lesen, entscheidend ist der "gewöhnliche Aufenthalt". Er ist Voraussetzung für die internationale Zuständigkeit und er muss zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung vorliegen, also im Grunde erst am Ende des Verfahrens.

Der Begriff "Antragstellung" ist in einer anderen Konstellation von Bedeutung, gerade für den Elternteil, der sich gegen die Verbringung des Kindes wehren will:

Wer als übergangener Elternteil schnell tätig wird, und noch vor Begründung eines neues "gewöhnlichen Aufenthalts" im Zufluchts- bzw. Verbringungsstaat ein Gerichtsverfahren im Ursprungsstaat einleitet, sichert sich für dieses Verfahren die fortbestehende internationale Zuständigkeit des von ihm angerufenen Gerichts.

Der Begriff "Antragstellung" in Art. 7 Abs. 1 EuEheVO soll nämlich ausdrücken, dass ein einmal angerufenes Gericht zuständig bleibt, auch wenn das Kind während des Verfahrens in einem anderen Staat einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erwirbt (perpetuatio foriBGH, 17.02.2010, XII ZB 68/09).

Das Fortbestehen der internationalen Zuständigkeit gilt aber nur für dieses rechtzeitig eingeleitete Verfahren, also z. B. nicht für spätere Abänderungsverfahren.

Wer als übergangener Elternteil mit seinem rechtzeitig eingeleiteten Gerichtsverfahren in der ersten Instanz nicht erfolgreich war, sollte auf jeden Fall in die Beschwerde gehen, weil die perpetuatio fori auch für die weiteren Instanzen gilt, die abweisende Entscheidung darf nicht rechtskräftig werden.

b) Wechsel aus EU-Mitgliedstaat in KSÜ-Staat

Verlagert sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes von einem EU-Mitgliedstaat in einen KSÜ-Vertragsstaat, der nicht zugleich ein EU-Mitgliedstaat ist, wie z. B. die Schweiz, dann wird das KSÜ nicht gemäß Art. 97 Abs. 1 lit. a EuEheVO verdrängt, mit der Folge, dass auch Art. 7 Abs. 1 EuEheVO und die perpetuatio fori nicht gelten.

Es ist vielmehr allein das KSÜ maßgebend, das eine perpetuatio fori nicht kennt, im Gegenteil: Art. 5 Abs. 2 KSÜ ordnet ausdrücklich an, dass bei einem Wechsel des Kindes in einen anderen KSÜ-Vertragsstaat die Behörden des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts zuständig sind.

Das kann ein erfolgreich begonnenes Gerichtsverfahren zum Erliegen bringen. Lebte das Kind zunächst in Deutschland und wechselte es nach Abschluss der ersten Instanz in einen KSÜ-Staat, so muss das Gericht der zweiten Instanz den Antrag wegen nunmehr fehlender internationaler Zuständigkeit als unzulässig abweisen.

Soweit es in § 65 Abs. 4 FamFG und § 72 Abs. 2 FamFG heißt, eine Beschwerde bzw. Rechtsbeschwerde könne nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht der ersten Instanz zu Unrecht seine Zuständigkeit angenommen habe, so ist damit nicht die internationale Zuständigkeit gemeint, sie ist in jeder Instanz neu zu prüfen.

Der einzige Lichtblick ist die in § 5 Abs. 2 KSÜ enthaltene Einschränkung: "vorbehaltlich des Artikels 7". Damit ist gemeint, dass der mit der Änderung des gewöhnlichen Aufenthalts verbundene Wechsel der internationalen Zuständigkeit nur bei einem rechtmäßigen Umzug in einen anderen KSÜ-Staat eintreten soll.

Es bleibt also in Fällen der Kindesentführung beim oben beschriebenen Zuständigbleiben des Ursprungsstaats nach Art. 7 Abs. 1 KSÜ, bis das Kind im Zufluchtsstaat einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt und z. B. der übergangene Elternteil das Verbringen bzw. Zurückhalten des Kindes genehmigt hat.

c) Wechsel aus EU-Mitgliedstaat in Drittstaat

Wird der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes aus einem EU-Mitgliedstaat in einen sonstigen Drittstaat verlegt, z. B. nach Liechtenstein, das kein KSÜ-Vertragsstaat ist, verbleibt es bei der perpetuatio fori gemäß § 7 Abs. 1 EuEheVO, da sie nicht durch das KSÜ verdrängt wird (vgl. Art. 52 KSÜ).

Das rechtzeitig in einem EU-Mitgliedstaat begonnene Gerichtsverfahren kann also trotz des zwischenzeitlichen Wechsels durch alle Instanzen weitergeführt werden.

6) Gerichtsstandsvereinbarungen

Für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit kommt es wie gesagt in erster Linie auf den "gewöhnlichen Aufenthalt" des Kindes an (Art. 7 Abs. 1 EuEheVO).

Dahinter steht die Überlegung des Gesetzgebers, dass es dem Kindeswohl entspricht, wenn ein Gericht in "räumlicher Nähe" zum Kind entscheidet. Von diesem Grundsatz darf aber abgewichen werden, wenn sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder die Eltern etwas anderes vereinbart haben (Erwägungsgrund 20 zur Brüssel IIb-VO).

Die Möglichkeit der Vereinbarung eines bestimmten Gerichtsstandes findet sich in Art. 10 EuEheVO, über ihn kann ein Gericht in einem anderen EU-Mitgliedstaat zuständig werden, das wegen des fehlenden "gewöhnlichen Aufenthalts" des Kindes in diesem Staat eigentlich nicht international zuständig wäre.

Für eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung müssen aber verschiedene Voraussetzungen gegeben sein:

a) Es muss eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem EU-Mitgliedstaat bestehen, etwa weil ein Elternteil in diesem Staat aktuell seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder weil das Kind dort früher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder weil das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Staats besitzt.

b) Beide Eltern müssen die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staats entweder vor Beginn des Verfahrens vereinbart oder im Laufe des Verfahrens ausdrücklich anerkannt haben, wobei letzteres voraussetzt, dass sie vom Gericht zuvor darüber belehrt wurden, dass sie der Zuständigkeit dieses Gerichts auch widersprechen können.

Außerdem muss die vereinbarte Zuständigkeit im Einklang mit dem Kindeswohl stehen. Das ist z. B. nicht der Fall, wenn dem Gericht die Sachnähe fehlt, es sich also kein Bild von der tatsächlichen Lebenssituation des Kindes machen kann, es seine Sprache nicht beherrscht oder das Kind von weit her anreisen müsste.

Sich stillschweigend auf die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichtsstaats zu verständigen, wie es zur Zeit der Brüssel IIa-VO möglich war, lässt die Brüssel IIb-VO nicht mehr zu, sie verlangt eine schriftlich dokumentierte Einigung, die auch in einem Gerichtsprotokoll enthalten sein kann (Art. 10 Abs. 2 EuEheVO).

Dass die Parteien die Zuständigkeit eines "fernen" Gerichts vereinbaren können, erweitert die Möglichkeiten in HKÜ-Verfahren, also bei einer Kindesentführung:

Das HKÜ regelt vor allem die behördliche Zusammenarbeit, sein Ziel ist die Rückgabe des von einem HKÜ-Vertragsstaat in einen anderen HKÜ-Vertragsstaat verbrachten Kindes, damit anschließend die Gerichte des Ursprungsstaats alle erforderlichen Entscheidungen zum Sorgerecht und Umgang treffen können.

Sollten die Eltern aber schon im HKÜ-Verfahren zu einer Einigung z. B. über den Umgang kommen, so kann das HKÜ-Gericht, das hierfür eigentlich nicht zuständig wäre, zunächst eine Gerichtsstandsvereinbarung in sein Protokoll aufnehmen, und anschließend einen von ihm gebilligten Vergleich (§ 156 Abs. 2 FamFG).

Ein solcher vom HKÜ-Gericht protokollierter und gebilligter Vergleich kann vom umgangsberechtigten Elternteil vollstreckt werden (§ 86 Abs. 1 Nr. 2 FamFG).

Ob die Eltern die Gerichtsstandsvereinbarung vor oder erst nach Beginn eines Verfahren getroffen haben, erscheint auf den ersten Blick nebensächlich, hat aber Auswirkungen auf die Verbindlichkeit. Wer solche Vereinbarungen für die Zukunft schließt, z. B. in einem Ehevertrag, kann später ein Sorgerechtsverfahren in einem anderen Staat einleiten als dem, der im Ehevertrag eigentlich festgelegt war. Solche vorsorglichen Regelungen begründen eine "Wahlzuständigkeit", die nicht genutzt werden muss.

Anders ist es bei den in einem laufenden Verfahren geschlossenen Vereinbarungen, sie haben ausschließliche Wirkung (Art. 10 Abs. 4 EuEheVO).

Die ausschließliche Zuständigkeit hat zur Folge, dass ein früher angerufenes Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats, das eigentlich den Vorrang genießt (Art. 20 Abs. 2 EuEheVO), sein Verfahren so lange aussetzen muss, bis das "vereinbarte" Gericht erklärt, dass es nicht zuständig sei (Art. 20 Abs. 4 EuEheVO).

Abschließend ein Hinweis zum KSÜ: hat das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz, also einem KSÜ-Vertragsstaat, der kein EU-Mitgliedstaat ist, sind Vereinbarungen nach Art. 10 EuEheVO nicht möglich, weil dieser von Art. 10 KSÜ verdrängt wird (Art. 97 Abs. 2 EuEheVO).

7) Übertragung auf nicht zuständiges Gericht

Wenn bei dem international zuständigen Gericht eines EU-Mitgliedstaats ein Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung anhängig ist, und es der Ansicht ist, ein Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats könne das Kindeswohl besser beurteilen, so kann es ihm die internationale Zuständigkeit übertragen (Art. 12 EuEheVO).

Eine solche Abgabe darf aber nur bei "außergewöhnlichen Umständen" erfolgen, und nur wenn das andere Gericht eigentlich nicht international zuständig ist. Sollten beide Gerichte international zuständig sein, ist eine Übertragung nicht möglich, die Doppelzuständigkeit ist vielmehr nach Art. 20 Abs. 2 EuEheVO aufzulösen.

Das andere Gericht, auf das die internationale Zuständigkeit übergehen soll, muss eigenständig prüfen, ob dies auch aus seiner Sicht dem Kindeswohl entspricht, und wenn ja, sich innerhalb von sechs Wochen für zuständig erklären. Das eigentlich zuständige Gericht wird sich daraufhin für unzuständig erklären.

Das übernehmende Gericht leitet anschließend bei sich ein neues Verfahren ein, die Akte des abgebenden Gerichts wird nicht übersandt.

Das Kind muss zu dem EU-Mitgliedstaat, auf den die internationale Zuständigkeit übergehen soll, eine "besondere Bindung" haben, dies ist z. B. der Fall, wenn

a) es während des ersten Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem EU-Mitgliedstaat erworben hat,

b) es nicht aktuell, aber zu einem früheren Zeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem EU-Mitgliedstaat hatte,

c) ein sorgeberechtigter Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem EU-Mitgliedstaat hat,

d) es in dem Verfahren um Vermögen des Kindes geht, das sich im Hoheitsgebiet dieses EU-Mitgliedstaats befindet,

e) das Kind die Staatsangehörigkeit dieses EU-Mitgliedstaats besitzt.

Außerdem muss das übernehmende Gericht wesentlich bessere Möglichkeiten haben, sich ein Bild von den aktuellen Lebensverhältnissen des Kindes zu machen, sei es durch eine persönliche Anhörung des Kindes, einen Bericht des örtlichen Jugendamts, oder weil es dort weniger Sprachbarrieren gibt.

Der Europäische Gerichtshof betont, dass die Abgabe für das Kindeswohl einen "realen und konkreten Mehrwert" erbringen muss (EuGH, 27.10.2016, C-428/15).

Anders als die Brüssel IIa-VO verlangt die seit 01.08.2022 geltende Brüssel IIa-VO nicht mehr, dass zumindest eine Partei der Abgabe zugestimmt hat, eine Verweisung ist also auch gegen den Willen beider Parteien möglich. Es kommt nur noch darauf an, dass sich die beteiligten Gerichte einig sind.

Letzteres ist nur dann nicht möglich, wenn die Parteien die internationale Zuständigkeit des abgebenden Gerichts während des dort laufenden Verfahrens vereinbart hatten.

Die Initiative für die Übertragung kann auch vom später übernehmenden Gericht ausgegangen sein, es kann das eigentlich zuständige Gericht um Übertragung ersuchen, wenn es davon überzeugt ist, dass es das Kindeswohl in dem konkreten Fall besser beurteilen kann (Art. 13 EuEheVO). Ausgeschlossen ist es bei einer Kindesentführung, auf diese Weise soll die durch Art. 9 EuEheVO ausdrücklich angeordnete Fortdauer der internationalen Zuständigkeit geschützt werden.

Möchte eine Partei die Abgabe verhindern, so darf sie nicht warten, bis sich das abgebende Gericht für unzuständig erklärt. Mit der sofortigen Beschwerde angreifbar sind nur die Zwischenentscheidungen des Gerichts, z. B. der Beschluss, ein anderes Gericht um Übernahme zu ersuchen (§ 13a Abs. 4 IntFamRVG).

Die sofortige Beschwerde muss innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses eingelegt werden (§ 569 ZPO).

8) Zuständigkeit in dringenden Fällen

Wenn sich ein Kind in einem EU-Mitgliedstaat aufhält, der international eigentlich nicht zuständig ist, können dessen Gerichte in dringenden Fällen einstweilige Maßnahmen treffen. Gleiches gilt in Bezug auf Vermögen, das dem Kind gehört und sich in diesem EU-Mitgliedstaat befindet (Art. 15 EuEheVO).

Für den Europäischen Gerichtshof ist eine Maßnahme "dringlich", wenn sie keinen Aufschub duldet, um Schaden vom Kind abzuwenden und es "praktisch unmöglich" ist, den Antrag beim zuständigen Gericht zu stellen (EuGH, 23.12.2009, C-403/09). Der Bundesgerichtshof betont, dass die Eilzuständigkeit aber nicht missbraucht werden dürfe, etwa von Eltern, die ein Kind rechtswidrig in einen anderen Mitgliedstaat verbracht haben oder dort zurückhalten (BGH, 10.02.2016, XII ZB 38/15):

"Dürfte eine Maßnahme erlassen werden, die zu einer Veränderung der elterlichen Verantwortung und damit zu einer Verfestigung der aus rechtswidrigem Handeln entstandenen tatsächlichen Situation führt, liefe das darauf hinaus, die Position des hierfür verantwortlichen Elternteils zu stärken."

Um das zu verhindern, sollte der andere Elternteil, der sich gegen die Kindesentführung wehrt, im Ursprungsstaat ein eigenes Sorgerechtsverfahren einleiten. Die Eilmaßnahmen treten nämlich außer Kraft, sobald das "Heimatgericht" eigene Maßnahmen getroffen hat (Art. 15 Abs. 3 EuEheVO).

9) Parallelverfahren in zwei EU-Mitgliedstaaten

In Ehesachen können Ehegatten häufig wählen, in welchem der prinzipiell zuständigen EU-Mitgliedstaaten sie sich scheiden lassen wollen (Art. 3 EuEheVO).

Dadurch kann es leicht zu doppelten Verfahren kommen, weil der eine Ehegatte noch nichts vom anderen Verfahren weiß oder ihm bewusst zuvorkommen will.

In Kindschaftssachen sollte so etwas seltener vorkommen, weil Art. 7 EuEheVO für die internationale Zuständigkeit auf den Ort des "gewöhnlichen Aufenthalts" des Kindes abstellt, der zum einen die körperliche Anwesenheit des Kindes verlangt, und zum anderen eine gewisse Integration in ein soziales und familiäres Umfeld.

Für Ehegatten ist entschieden, dass sie nicht zwei gewöhnliche Aufenthalte zugleich haben können (EuGH, 25.11.2021, C-289/20). Das lässt sich auf Kinder übertragen.

Dennoch kommt es vor, dass es zwei Sorgerechtsverfahren gibt, die in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten eingeleitet wurden, z. B. von Elternteilen in Trennung, die entweder schon immer in verschiedenen Mitgliedstaaten lebten oder das für die Zukunft planen - nicht allein, sondern mit dem Kind.

Sobald das später angerufene Gericht erfährt, dass in einem anderen EU-Mitgliedstaat bereits ein Sorgerechtsverfahren anhängig ist, wird es sein Verfahren aussetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist (Art. 20 Abs. 2 EuEheVO). Die Aussetzung selbst ist nicht in der EuEheVO geregelt, für sie gelten jeweils die Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts, in Deutschland wäre dies z. B. § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG in Verbindung mit § 148 ZPO analog.

Das später angerufene Gericht hat nicht zu prüfen, ob die in dem anderen Verfahren zu erwartende Entscheidung anzuerkennen ist, nach Art. 30 Abs. 1 EuEheVO sind in einem EU-Mitgliedstaat ergangene Entscheidungen in allen anderen Mitgliedstaaten ohne ein besonderes Verfahren anzuerkennen.

a) Welches Gericht wurde als Erstes angerufen?

Um prüfen zu können, welches Gericht das "spätere" ist, kann es auf den genauen Zeitpunkt ankommen, zu dem die beiden Verfahren eingeleitet wurden:

Nach deutschem Verfahrensrecht ist grundsätzlich "Rechtshängigkeit" erforderlich (§ 261 Abs. 1 ZPO), und die tritt nicht mit Einreichung der Antragsschrift beim Gericht ein, sondern erst mit ihrer Zustellung an den Antragsgegner (§ 253 Abs. 1 ZPO). Dabei kann es gerade bei Verfahren mit Auslandsbezug zu Verzögerungen kommen.

Unter der Geltung der EuEheVO ist es für den Antragsteller leichter, hier genügt bereits die "Anrufung" des Gerichts, und die richtet sich nicht nach dem jeweiligen nationalen Recht, sondern wird in Art. 17 lit. a EuEheVO autonom definiert. Danach gilt ein Gericht als angerufen, sobald die Antragsschrift beim Gericht eingereicht wurde, und das erfolgt heute in vielen Mitgliedstaaten elektronisch, z. B. in Deutschland über das "beA", das besondere elektronische Anwaltspostfach des beauftragten Rechtsanwalts.

Auf diese Weise lässt sich häufig auf die Minute genau feststellen, welche der beiden Antragsschriften früher eingereicht wurde.

b) Sind die beiden Streitgegenstände identisch?

Teilweise ist zusätzlich zu prüfen, worum es in den beiden Verfahren im Einzelnen geht, denn nur wenn die Streitpunkte identisch sind, kommt es darauf an, wer schneller war:

Wenn in beiden Verfahren dasselbe Kind oder dieselben Kinder betroffen sind, liegt eine "Identität des Streitgegenstands" vor, die Parteien müssen nicht identisch sein, es können also z. B. in einem Verfahren die Elternteile miteinander streiten, und im anderen ein Elternteil mit einem Jugendamt.

Auch die Streitgegenstände "Übertragung des Sorgerechts" und "Herausgabe des Kindes" sind identisch, weil die Herausgabe davon abhängt, wer das Sorgerecht hat.

Da der in Art. 1 Abs. 2 EuEheVO verwende Oberbegriff "elterliche Verantwortung" das Sorgerecht und das Umgangsrecht umfasst, sind einige der Ansicht, dass von einer Identität auch dann zu sprechen sei, wenn in dem einen Mitgliedstaat ein Umgangsverfahren laufe und in dem anderen ein Sorgerechtsverfahren.

Nicht identisch sind ein gerichtliches Sorgerechtsverfahren und ein Verfahren über die Rückgabe eines in einen anderen EU-Mitgliedstaat entführten Kindes nach dem HKÜ, weil eine solche Rückgabeentscheidung keine Entscheidung über das Sorgerecht ist (Art. 19 HKÜ, EuGH, 09.10.2014, C-376/14).

Ähnlich ist es in Eilfällen, wenn z. B. das eine Gericht seine Zuständigkeit allein auf Art. 15 EuEheVO stützt, um zum Schutz des Kindes einstweilige Maßnahmen treffen zu können. Solange das andere Gericht nach Art. 7 EuEheVO zuständig ist, weil das Kind dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, können beide Verfahren parallel weitergeführt werden, ohne dass es darauf ankommt, welches Gericht früher und welches später angerufen wurde (Art. 20 Abs. 2 EuEheVO).

c) Ist die Priorität förmlich festzustellen?

Ob ein Gericht das früher oder das später angerufene ist, beurteilt jedes Gericht selbständig. Kommt ein Gericht zu der Überzeugung, es sei das früher angerufene, muss es seine internationale Zuständigkeit in der Regel nicht eigens feststellen, in Form eines Beschlusses. Seine Zuständigkeit gilt bereits dann als "geklärt", wenn es sich nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt und keine der Parteien den Einwand der fehlenden Zuständigkeit erhebt (EuGH, 06.10.2015, C-489/14).

Dass ein Gericht zuständig ist, ist spätestens dann geklärt, wenn es das in einem Beschluss ausdrücklich festgestellt hat und die Entscheidung rechtskräftig ist.

Das Gericht muss damit nicht bis zur Endentscheidung warten, es kann, wenn das eigene Verfahrensrecht (lex fori) so etwas zulässt, eine Zwischenentscheidung treffen, in der es zunächst nur die eigene internationale Zuständigkeit im Sinne des Art. 20 Abs. 2 EuEheVO feststellt. Sobald die Entscheidung rechtskräftig ist, muss sich das parallel angerufene  Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats für unzuständig erklären (Art. 20 Abs. 3 EuEheVO) und den bei ihm eingereichten Antrag abweisen.

Trifft ein deutsches Gericht eine solche Zwischenentscheidung, und ist eine Partei damit nicht einverstanden, kann sie Beschwerde einlegen, obwohl § 58 Abs. 1 FamFG eigentlich eine "Endentscheidung" verlangt, die Frist für diese Beschwerde beträgt einen Monat (OLG Stuttgart, 06.05.2014, 17 UF 60/14).

Die Parteien können die Frage, welches der von ihnen angerufenen Gerichte denn nun das "frühere" war, auch selbst beantworten, indem sie es kurzerhand vereinbaren:

Sie können z. B. in dem einen Verfahren zu Protokoll geben, dass sie die Zuständigkeit dieses Gerichts anerkennen, es ist dann ausschließlich zuständig (Art. 10 Abs. 4 EuEheVO), die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats werden sich daraufhin für unzuständig erklären (Art. 20 Abs. 4, 5 EuEheVO).

10) Parallelverfahren in EU-Mitgliedstaat und Drittstaat

Wird die eine Kindschaftssache in einem EU-Mitgliedstaat eingeleitet und die andere in einem Drittstaat, wie z. B. der Schweiz oder Liechtenstein, lässt sich die Konkurrenz aus deutscher Sicht nicht über Art. 20 EuEheVO auflösen, weil diese Norm ausdrücklich von "verschiedenen (EU-)Mitgliedstaaten" spricht.

a) Drittstaat ist KSÜ-Vertragsstaat

Die Abkürzungen "KSÜ" oder "HKsÜ" stehen für "Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern" vom 19.10.1996, dem 57 Staaten angehören.

Deutschland und die Schweiz sind jeweils KSÜ-Vertragsstaaten, das Übereinkommen ist zwischen ihnen seit 01.01.2011 in Kraft.

Zwischen ihnen ist die Konkurrenz von parallel laufenden Kindschaftssachen nach Art. 13 KSÜ aufzulösen:

Danach dürfen Gerichte des einen Vertragsstaats, soweit sie "nach den Artikeln 5 bis 10" zuständig sind, Maßnahmen zum Schutz des Kindes oder seines Vermögens nicht treffen, wenn solche Maßnahmen zuvor in einem anderen Vertragsstaat beantragt worden waren, und dort die Prüfung noch nicht abgeschlossen ist.

Mit der Zuständigkeit nach Art. 5 KSÜ ist die aufgrund des (früheren) gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes gemeint, Art. 7 KSÜ regelt die Zuständigkeit bei einer Kindesentführung und Art. 10 KSÜ die Verbundzuständigkeit bei einer gleichzeitig laufenden Ehesache wie z. B. einem Scheidungsverfahren.

Geht es in dem einen Staat allein um dringliche oder vorläufige Schutzmaßnahmen (Art. 11 KSÜ, Art. 12 KSÜ), besteht diese Sperre nicht.

Anders als bei Art. 20 Abs. 2 EuEheVO kann in KSÜ-Fällen das später angerufene Gericht selbst prüfen, ob eine Überschneidung vorliegt, es muss nicht warten, bis sich das früher angerufene Gericht für zuständig erklärt oder eine Entscheidung in der Sache getroffen hat. Wenn es sich für unzuständig hält, muss es sein Verfahren nicht aussetzen, es kann den bei ihm eingereichten Antrag sogleich als unzulässig zurückweisen, in Deutschland entsprechend § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO.

Ähnlich wie in den EuEheVO-Fällen muss das Gericht auch nicht prüfen, ob die in dem anderen KSÜ-Staat zu erwartenden Maßnahmen voraussichtlich anzuerkennen sind, weil nach Art. 23 Abs. 1 KSÜ grundsätzlich alle Maßnahmen anerkannt werden, Ausnahmen finden sich in Art. 23 Abs. 2 KSÜ.

b) Sonstige Drittstaaten

Läuft das Parallelverfahren in einem Staat wie z. B. Liechtenstein, das weder ein EU-Mitgliedstaat noch ein KSÜ-Vertragsstaat ist, müsste ein deutsches Gericht auf sein nationales Verfahrensrecht zurückgreifen, um die Konkurrenz aufzulösen. Sind die Streitgegenstände der beiden Verfahren zumindest sehr ähnlich, liegt ein Fall des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO vor, wonach bei Anhängigkeit einer Streitsache dieselbe Sache von keiner Partei anderweitig anhängig gemacht werden kann.

Anders als in den KSÜ-Fällen muss das Gericht hier aber zunächst immer eine Prognose treffen, ob die in dem anderen Verfahren zu erwartende Entscheidung anzuerkennen ist, was nach § 108 FamFG die Regel ist, aber an den in § 109 FamFG aufgezählten Abweichungen scheitern kann.

Wurde das ausländische Verfahren früher eingeleitet und ist die Anerkennung der dortigen Entscheidung relativ sicher, kann das deutsche Gericht den bei ihm eingereichten Antrag als unzulässig zurückweisen. Ist die Anerkennung unsicher, kann es sein Verfahren aussetzen (§ 148 ZPO).

11) Örtliche Zuständigkeit in Deutschland

Wenn es kein Verfahren im Ausland gibt, das früher eingeleitet wurde, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, welches Gericht in Deutschland örtlich zuständig ist.

Kindschaftssachen sind "Familiensachen" (§ 23a Abs. 1 Nr. 1 GVG), über sie entscheiden in erster Instanz die Amtsgerichte. Das "Familiengericht" ist nur die interne Bezeichnung innerhalb des Amtsgerichts, für die Abteilung, die für alles zuständig ist, was irgendwie mit Ehe oder Familie zu tun hat (§ 111 FamFG).

a) Die üblichen Anknüpfungspunkte

Welches Amtsgericht örtlich zuständig ist, in welcher Stadt also z. B. ein Sorgerechtsverfahren durchzuführen ist, ergibt sich grundsätzlich aus § 152 FamFG, allerdings nur mittelbar, weil diese Norm an sehr unterschiedliche Lebenssachverhalte anknüpft. Nach § 152 Abs. 1 FamFG ist, solange eine Ehesache wie z. B. ein Scheidungsverfahren anhängig ist, das Amtsgericht für das Sorgerechtsverfahren zuständig, das schon für das Scheidungsverfahren in erster Instanz örtlich zuständig war.

Diese Anknüpfung an ein Scheidungsverfahren entspricht dem in Deutschland verbreiteten "Verbundprinzip", wonach über Scheidung und "Folgesachen" stets zusammen verhandelt und entschieden werden soll, damit beim Ausspruch der Scheidung klar ist, wie das Gericht in den anderen Sachen entschieden hat (§ 137 FamFG).

Wenn keine Ehesache anhängig ist, etwa weil die Eltern bereits geschieden sind oder zunächst nur um das Sorgerecht streiten, ist nach § 152 Abs. 2 FamFG das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das Kind seinen "gewöhnlichen Aufenthalt" hat, wie bei der internationalen Zuständigkeit nach Art. 7 Abs. 1 EuEheVO.

Wenn keine Ehesache anhängig ist und das Kind keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ist nach § 152 Abs. 3 FamFG das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das Bedürfnis der Fürsorge bekannt wird. Darüber werden z. B. die Fälle erfasst, bei denen der aktuelle Aufenthaltsort des Kindes unbekannt ist.

b) Besonderheiten bei Auslandsfällen

Bei Kindschaftssachen mit Auslandsbezug ist neben § 152 FamFG zusätzlich das IntFamRVG zu beachten, das Internationale Familienrechtsverfahrensgesetz.

Dieses Gesetz dient der Umsetzung verschiedener supranationaler Rechtsinstrumente, wie z. B. der EuEheVO bzw. Brüssel IIb-VO, des Haager Kinderschutzübereinkommens (KSÜ), des Haager Kindesentführungsübereinkommens (HKÜ) oder des Europäischen Sorgerechtsübereinkommens (ESÜ) (§ 1 IntFamRVG).

Im IntFamRVG ist die Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts etwas kompliziert geraten, sie gelingt in der Regel nur schrittweise:

Geht es z. B. um die Anerkennung oder Vollstreckung von ausländischen Titeln aufgrund der EuEheVO, des KSÜ oder ESÜ, ist grundsätzlich das Familiengericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich das Kind gewöhnlich aufhält (§ 10 IntFamRVG). Beispiel: Lebt es im bayerischen Tegernsee, ist das Amtsgericht Miesbach zuständig.

Ähnlich ist es bei HKÜ-Verfahren (z. B. Antrag auf Rückgabe des Kindes, Ausübung des Umgangs), hier ist grundsätzlich das Familiengericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich das entführte Kind zum Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei der "Zentralen Behörde" (in Deutschland: Bundesamt für Justiz) aufhielt (§ 11 IntFamRVG).

Das ist das Grundprinzip, nun kommen die Besonderheiten der "Zuständigkeitskonzentration", die zu einer leichten Verschiebung der örtlichen Zuständigkeit führen können:

Weil Kindschaftssachen mit Auslandsbezug oft Spezialkenntnisse verlangen, hat sich der Gesetzgeber entschieden, alle Verfahren nach § 10 IntFamRVG und § 11 IntFamRVG bei den Familiengerichten zu konzentrieren, in deren Bezirk ein Oberlandesgericht seinen Sitz hat (§ 12 Abs. 1 IntFamRVG). Niedersachsen hat drei Oberlandesgerichte, es ist aber stets das Amtsgericht Celle zuständig (§ 12 Abs. 3 IntFamRVG), in Berlin stets das Amtsgericht Pankow (§ 12 Abs. 2 IntFamRVG).

Damit sind von den mehr als 600 deutschen Amts- bzw. Familiengerichten im Ergebnis nur 22 Familiengerichte für diese speziellen Kindschaftssachen mit Auslandsbezug zuständig. Das Bundesamt für Justiz hat eine Liste erstellt, in der diese 22 Amtsgerichte und die für Beschwerden jeweils zuständigen Oberlandesgerichte aufgeführt sind.

Für Laien ist es oft schwierig, ein Kind einem bestimmten Gerichtsbezirk zuzuordnen. Wer die Postleitzahl des Ortes kennt, in dem sich das Kind gewöhnlich aufhält, kann auf den Europäischen Gerichtsatlas für Zivilsachen zurückgreifen. Einzugeben ist "Deutschland", "Zuständige Vollstreckungsbehörden", und zuletzt die Postleitzahl.

Dort würde bei Eingabe der Postleitzahl "83684" (Tegernsee) nun nicht mehr das Amtsgericht Miesbach angezeigt, das nach § 10 IntFamRVG bzw. § 11 IntFamRVG zuständig wäre, sondern das Amtsgericht München mit der Anschrift Pacellistr. 5, 80315 München, weil Tegernsee im Bezirk des Oberlandesgerichts München liegt.

Bei Eingabe der Postleitzahl "47058" (Duisburg) würde das Amtsgericht Düsseldorf angezeigt, bei "52062" (Aachen) das Amtsgericht Köln, jeweils mit vollständiger Anschrift.

Die Konzentration geht noch weiter: sobald eines der 22 Spezialgerichte tätig wird, sind andere Familiengerichte verpflichtet, ihre dasselbe Kind betreffenden Verfahren im Sinne des § 151 Nr. 1 bis 3 FamFG (z. B. Sorgerecht, Umgang) dorthin abzugeben, auch wenn sie keinen Auslandsbezug haben (§ 13 Abs. 3 IntFamRVG).

Sollte ein Familiengericht diese Abgabe versäumen, so ist sie in der Beschwerdeinstanz vom Oberlandesgericht nachzuholen (OLG Oldenburg, 27.11.2007, 2 UF 110/07).

Wer als Elternteil in einem anderen EU-Mitgliedstaat oder in einem Vertragsstaat des KSÜ, HKÜ oder ESÜ lebt, hat diese Pflicht nicht, er kann wählen, ob er ein solches Verfahren bei dem nach § 152 FamG allgemein zuständigen "Wohnsitzgericht" oder beim Spezialgericht anhängig machen will (§ 13 Abs. 2 IntFamRVG).

Geht es ihm um den Umgang, besteht die Wahlmöglichkeit aber nur, wenn er das Verfahren ohne Einschaltung des Bundesamtes für Justiz betreibt, mit seiner Beteiligung wird es zu einem HKÜ-Verfahren im Sinne des Art. 21 HKÜ, das zu einem der 22 Spezialgerichte gehört (§ 13 Abs. 1 IntFamRVG).

12) Welches Kindschaftsrecht ist anwendbar?

Sofern ein deutsches Gericht international und örtlich zuständig ist, muss es im nächsten Schritt ermitteln, nach welchem materiellen Recht es zu entscheiden hat.

Ein europäisches Kindschaftsrecht existiert nicht, und anders als bei Scheidungen auch keine Verordnung, mit der das im Einzelfall maßgebliche nationale Kindschaftsrecht bestimmt werden könnte. Was es gibt, sind drei völkerrechtliche Verträge: das KSÜ, das MSA und das deutsch-persische Niederlassungsabkommen vom 17.02.1929.

"KSÜ" (in der Schweiz: "HKsÜ") steht für "Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern" vom 19.10.1996, dem bisher 57 Staaten angehören. In Deutschland ist es z. B. im Verhältnis zur Schweiz seit 01.01.2011 in Kraft, die Vereinigten Staaten haben es 2010 gezeichnet, aber bisher nicht ratifiziert.

"MSA" steht für "Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen" vom 05.10.1961, an ihm nehmen 14 Staaten teil, neben Deutschland z. B. die Schweiz - zwischen ihnen ist es aber nicht mehr anwendbar, es wurde durch das KSÜ ersetzt.

Aus deutscher Sicht ist das MSA heute nur noch relevant für Kinder, die ihren Aufenthalt in der früheren portugiesischen Kolonie und heutigen chinesischen Sonderverwaltungsregion Macau oder in einigen überseeischen Gebietseinheiten der Niederlande haben (z. B. Aruba, Curaçao und Sint Maarten).

Nach Art. 8 Abs. 3 des deutsch-persischen Niederlassungsabkommens von 1929 bleiben bezüglich des Kindschaftsrechts die Angehörigen der vertragschließenden Staaten im Gebiet des anderen Staates den Vorschriften ihrer heimischen Gesetze unterworfen, was aber voraussetzt, dass beide Eltern und das Kind ausschließlich iranische Staatsbürger sind, also z. B. keine iranisch-deutschen Doppelstaater, und sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.

Sofern das deutsch-persische Niederlassungsabkommen nicht zur Anwendung kommt, ist in erster Linie das KSÜ zu beachten, weil es das MSA verdrängt (Art. 51 KSÜ).

Da alle 27 EU-Mitgliedstaaten zugleich Vertragsstaaten des KSÜ sind, schafft das KSÜ innerhalb der Europäischen Union ein einheitliches Kollisionsrecht, das darüber entscheidet, welche nationalen Gesetze anzuwenden sind, wenn es z. B. darum geht, wem die elterliche Sorge zusteht.

a) Welches Recht bestimmt, wer sorgeberechtigt ist?

Nach Art. 16 Abs. 1 KSÜ bestimmt das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, wem die elterliche Sorge kraft Gesetzes zusteht, z. B. bei der Geburt des Kindes oder durch Eheschließung der Eltern. Es entscheidet auch darüber, ob es trotz Trennung oder Scheidung beim gemeinsamen Sorgerecht bleibt.

Ähnlich ist es nach Art. 16 Abs. 2 KSÜ bei der Schaffung des gemeinsamen Sorgerechts durch Vereinbarung oder einseitige Erklärungen der Eltern, z. B. in Deutschland durch eine gemeinsame Sorgeerklärung gegenüber einem Notar, Jugendamt oder in einem Gerichtstermin (§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB).

Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Kind die Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates besitzt oder ob dieser ein KSÜ-Vertragsstaat ist (Art. 20 KSÜ).

Wem die elterliche Sorge bei Geburt des Kindes zusteht, richtet sich nach dem Recht des Staates, in dem das Neugeborene seinen ersten Lebensmittelpunkt haben wird, das muss nicht immer der Geburtsort sein. Ob spätere Ereignisse, wie etwa die Anerkennung der Vaterschaft oder die Heirat der Eltern, zu einer Änderung führen, bestimmt sich nach dem Recht des Staates, in dem das Kind zum Zeitpunkt des jeweiligen Ereignisses seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Wechselt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in einen anderen Staat, besteht ein bereits begründetes elterliches Sorgerecht fort, wird also mitgenommen (Art. 16 Abs. 3 KSÜ). Lediglich seine Ausübung, sein Inhalt und seine Reichweite, bestimmen sich fortan nach dem Recht des neuen gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 17 KSÜ).

Einem Elternteil, der bisher kein Sorgerecht hatte, kann dieses gemäß dem neuen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuwachsen (Art. 16 Abs. 4 KSÜ), es kann durch den Wechsel also ein weiterer Sorgeberechtigter hinzukommen, es kann aber keiner sein Sorgerecht verlieren.

b) Welches Recht hat ein Gericht anzuwenden?

Kommt es zum Streit um das Sorgerecht oder den Umgang, und wenden sich die Eltern oder das Jugendamt an das Familiengericht, so muss es prüfen, welches materielle Recht es anwenden darf, das eigene nationale Recht, das ihm vertraut ist, oder das eines anderen Staates, das es womöglich nicht kennt.

Denn davon hängt es ab, wann das Sorgerecht entzogen bzw. einem Elternteil zur alleinigen Ausübung übertragen werden darf, wie der Umgang mit dem Kind zu regeln ist, ob eine Vormundschaft oder Pflegschaft anzuordnen ist, und ob Maßnahmen wegen Gefährdung des Kindeswohls zu treffen sind.

Nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ sollen Gerichte "bei Ausübung ihrer Zuständigkeit nach Kapitel II" das eigene Recht anwenden (Gleichlaufprinzip). Das führt zu Problemen, wenn das Kind während des Verfahrens in einen anderen Staat zieht, weil das Gericht dadurch seine Zuständigkeit nach dem KSÜ verliert (Art. 5 Abs. 2 KSÜ).

Sollte das Gericht zu Beginn des Verfahrens nicht nur nach Art. 5 Abs. 1 KSÜ zuständig gewesen sein, sondern zugleich nach Art. 7 Abs. 1 EuEheVO bzw. Brüssel IIb-VO, bliebe es nach dieser Verordnung weiterhin zuständig, weil hier der Zeitpunkt der Antragstellung entscheidet (perpetuatio fori). Nur könnte es dann nicht mehr das eigene Recht anwenden, weil das KSÜ und damit das Gleichlaufprinzip des Art. 15 Abs. 1 KSÜ durch die EuEheVO verdrängt wird (Art. 97 Abs. 1 lit. a EuEheVO).

Der Gesetzgeber hat das Problem gesehen und in der Brüssel IIb-VO, die zum 01.08.2022 an die Stelle der Brüssel IIa-VO getreten ist, im Erwägungsgrund 92 klargestellt, dass die Bezugnahme in Art. 15 Abs. 1 KSÜ (auf Kapitel II des KSÜ) als Bezugnahme auch auf die EuEheVO zu verstehen sei.

Das bedeutet für die Praxis: Ist das Gericht zu Beginn des Verfahrens auch nach dem KSÜ zuständig, und nach dem Wegzug des Kindes allein nach Art. 7 Abs. 1 EuEheVO, so darf es gleichwohl weiterhin das eigene Recht anwenden, was eigentlich nur Art. 15 Abs. 1 KSÜ ermöglicht.

(wird fortgesetzt)

Rechtsanwalt Lars Finke, LL.M., Fachanwalt für Familienrecht, Mülheimer Str. 85, 47058 Duisburg (Stadtteil Duissern)